Ende Dezember des Jahres 1200 weilte der Landesherr in der Gegend von Zwettl. Der Babenbergerherzog Leopold VI. war damals etwa 24 Jahre alt, er hatte zwei Jahre zuvor – nach dem Tod seines Bruders Friedrich I. – zusätzlich zur Steiermark, in der er bereits seit 1195 regierte, auch Österreich geerbt. Später wurde er einer der bedeutendsten Herrscher des Landes, denn während seiner Regierungszeit (1198 – 1230) erlebten die babenbergischen Länder eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte, wie sie danach lange nicht mehr erreicht wurde. Nicht zu Unrecht bedachte man ihn noch im Mittelalter mit dem Beinamen „der Glorreiche“.
Wir wissen nicht, was Leopold VI. damals in das Waldviertel führte. Jedenfalls fertigte er am 28. Dezember 1200 im Raum Zwettl (wahrscheinlich im nahen Kloster) zwei für die Region bedeutsame Urkunden aus, eine für das Stift und eine für die zivile Siedlung Zwettl. Das letztgenannte Privileg ist in der Zwettler Stadtgeschichte auch als das „Leopoldinum“ bekannt.
Mit jener Urkunde vom 28. Dezember 1200, die das Kloster Zwettl betraf, übernahm der Herzog das Stift in seine ausschließliche Vogtei. Vereinfacht ausgedrückt: Die Gerichtsbarkeit über die Klosterbesitzungen, welche bisher der Grundherr inne gehabt hatte, wurde vom Landesherrn übernommen, was für das Stift von großem Vorteil war, ersparte man sich doch nun beträchtliche Kosten sowie möglichen Ärger und Konflikte mit dem örtlichen Gerichtsinhaber. Mit dieser Urkunde bestätigte der Herzog zugleich mehrere Grundschenkungen, welche die Kuenringer bereits in den Jahren zuvor an das Kloster Zwettl vorgenommen hatten und gewährte Mautfreiheit. In diesem Zusammenhang werden auch mehrere Orte in der Umgebung erstmals urkundlich genannt, wie zum Beispiel Kleinotten.
Die zweite Urkunde von diesem 28. Dezember, das „Leopoldinum“ also, ist – wie bereits erwähnt - für die zivile Siedlung Zwettl von großer Bedeutung, handelt es sich doch dabei um das sogenannte „Zwettler Stadtrecht“. Mit diesem Dokument (das Original befindet sich heute im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, im Zwettler Stadtmuseum ist ein Faksimile ausgestellt) stattete der Babenberger die Zwettler mit den gleichen Rechten aus, wie sie bereits die Kremser besaßen und der Herzog wünschte ausdrücklich, dass „seine Zwettler Bürger“ (urbanos nostros zwetlenses) in ihren wirtschaftlichen Bemühungen Erfolg haben mögen.
Es handelt sich bei dieser Urkunde um keine ausdrückliche Verleihung von Stadtrechtsprivilegien, wie sie zum Beispiel 1212 für Enns und 1221 für Wien vorgenommen wurden. Derartiges war im ausgehenden 12. Jahrhundert offenbar auch nicht üblich, denn eine Urkunde des Bischofs Konrad von Passau aus 1159 für die Bürger von St. Pölten (sie gilt als das älteste Stadtrecht Österreichs) und ein Privileg für die Wiener aus dem gleichen Jahr enthalten ebenfalls nur recht knappe Bestimmungen, ähnlich der Zwettler Urkunde von 1200. Auch später war es keineswegs zwingend erforderlich, dass eine Siedlung formal zur Stadt erhoben wurde. Nur wenige unserer Städte besitzen ein ausdrücklich ausformuliertes Stadtrecht, die meisten berufen sich auf eine bloße Nennung als „civitas“ oder „urbs“ im Laufe ihrer Geschichte.
Welche Rechte die Kremser nun tatsächlich schon vor 1200 hatten – auf diese bezieht sich ja die Zwettler Urkunde explizit – ist leider nicht bekannt. Der Donaustadt wurden erst 1305 die gleichen Rechte verbrieft, wie sie Wien zu dieser Zeit hatte. Dessenungeachtet besaß Krems aber ohne Zweifel bereits am Ende des 12. Jahrhunderts ein ausgebildetes Recht, das offenbar zu einem allgemein bekannten und anerkannten Begriff im Land geworden war, denn nach Zwettl bezieht sich auch eine 1279 von König Rudolf I. für Mautern ausgestellte Urkunde ausdrücklich auf diese Rechte der Kremser. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelte es sich dabei nicht nur um Handelsrechte, sondern auch um verfassungsrechtliche Bestimmungen, die vielleicht nie schriftlich fixiert und in Form einer landesfürstlichen Verleihung oder Bestätigung dokumentiert worden waren, vielmehr auf mündlicher, gewohnheitsrechtlicher Entwicklung und Überlieferung beruhten.
Im frühen 13. Jahrhundert sah man allerdings im Leopoldinum vor allem wirtschaftliche Privilegien wie Maut- und Zollrechte, was einer zeitgenössischen Notiz auf der Rückseite dieses Dokuments zu entnehmen ist.
Für die Wissenschaft steht es jedenfalls außer Zweifel, dass Zwettl im Jahr 1200 städtische Bedeutung erlangt hatte. Der Inhalt und mehrere Formulierungen des Leopoldinums lassen diesen Schluss zu. Dabei muss vor allem auf die bereits erwähnte Textstelle „urbanos nostros zwetlenses“ hingewiesen werden, mit welcher der Herzog „seinen Zwettler Bürgern“ wirtschaftliche Erfolge wünscht, sind doch unter „urbani“ die Bürger einer Stadt zu verstehen. Seit dieser Zeit gilt Zwettl unbestritten als Stadt.
In den Jahren danach wurden die Rechte, welche Leopold VI. den Zwettlern mit dieser Urkunde verliehen hatte, von verschiedenen Herrschern bestätigt und erneuert. So zum Beispiel 1280 durch König Rudolf I. und 1330 durch Herzog Albrecht V. Sonderbar ist allerdings, dass auf beiden Urkunden Leopolds VI. vom 28. Dezember 1200 kein einziger Kuenrniger unter den zahlreichen Zeugen aufscheint. Betrafen doch beide Dokumente ihren unmittelbaren Machtbereich und wurden in diesem ausgestellt! Textliche und inhaltliche Analysen beider Dokumente brachten namhafte Wissenschafter zu der Erkenntnis, dass damals eine deutliche Verstimmung, wenn nicht gar ein Zwist zwischen dem Landesherrn und den Kuenringern bestanden haben muss. Vor allem die Urkunde für das Kloster lässt den Schluss zu, dass der Herzog damit dem Stift zwar Gutes tun, zugeich aber seine mächtigen Ministerialen in die Schranken weisen wollte.
Mit der Formel „meine (unsere) Zwettler Bürger“ die der Herzog im Leopoldinum verwendete, behandelte er die Zwettler so, als wären sie Bürger einer landesfürstlichen Stadt. Sie befanden sich aber eindeutig nach wie vor unter der Herrschaft der Kuenringer. Ob diese Formulierung nur als Affront des Herzogs gegen seine Ministerialen gemeint war oder vielleicht gar als Besitzanspruch, wird wohl nie zu klären sein.
So lassen beide Urkunden von diesem denkwürdigen 28. Dezember 1200 und die Umstände ihrer Ausstellung einige Fragen offen. Dennoch ist das „Zwettler Stadtrecht“ ohne Zweifel nicht nur von lokaler Bedeutung, handelt es sich dabei doch um eine Besonderheit in der Landesgeschichte, und Zwettl kann auf diesen speziellen Huldbeweis des Herzogs stolz sein sowie auf den Umstand, in so früher Zeit vom Landesherrn selbst als Stadt genannt und gewürdigt worden zu sein.
Friedel Moll
Literatur:
Friedel Moll/Werner Fröhlich, Zwettler Stadtgeschichte(n). Alltagsleben in vergangener Zeit (Zwettl 2000) erhältlich bei: Buchhandlung Schulmeister, Zwettl, Schulgasse 17; http://www.buch-schulmeister.at/