Sowjetische Besatzung

Am 9. Mai 1945 kam um 14.00 Uhr ein Jeep mit einer Vorhut russischer Soldaten über die Kremser Straße nach Zwettl. Um 17.00 Uhr rückten dann weitere Soldaten der siegreichen Roten Armee in die Stadt ein. Damit war auch hier der Krieg endgültig vorbei. Die Schrecken der Nazi-Diktatur hatten nun zwar ein Ende, für große Teile der Bevölkerung brachte die sowjetische Besatzungsmacht aber unsägliches Leid, Angst und Not. Es wurde geplündert, geraubt und verschleppt. Es gab Morde und Vergewaltigungen. Die Truppen der Roten Armee sahen sich wohl mehr als Sieger im Feindesland, denn als Befreier. Nahezu in jedem Haus gab es Einquartierungen. Mehrere Funktionäre, Anhänger und Mitläufer des alten Regimes begingen Selbstmord, wie etwa Oskar Jölly, der Intendant der Wiener Volksoper, der sich am 21. Mai 1945 in der Propsteikirche erhängte.
Bürgermeister Emmerich Schröfl wurde von den Sowjets abgesetzt und unter Polizeiaufsicht gestellt. Zum neuen Stadtoberhaupt bestimmte man den Apotheker Mag. Josef Schüller. Er hatte bereits zwischen 1929 und 1933 die Geschicke der Gemeinde geleitet. Am 14. Mai betraute der örtliche Kommandant der Roten Armee den Oberlehrer in Ruhe Franz Matzke mit der Leitung der Bezirkshauptmannschaft. Er war noch am 3. Mai vor einem Standgericht der Nationalsozialisten gestanden und nur knapp dem Tod entronnen.

P. Torgunakow Sergeant Sokolow

Soldaten der Roten Armee

Die sowjetische Stadtkommandantur bezog die Räume des ehemaligen Wehrbezirkskommandos im Haus Hamerlingstraße 2 a (heute: Finanzamt), später übersiedelte sie in das Hotel „Goldener Löwe“ (Loidl, Hauptplatz 7, heute: Demal bzw. Volksbank). Vor dem Haus standen Tag und Nacht bewaffnete Wachposten, im Keller wurden Arrestzellen eingerichtet.
Am 19. Mai 1945 ordnete der sowjetische Stadtkommandant von Zwettl die Einführung der Moskauer Zeit an. Das bedeutete, dass man die Uhren um zwei Stunden vorstellen musste. Erst etwa eineinhalb Monate später wurde diese Regelung wieder aufgehoben. In der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 1945 konnten die Zwettler ihre Uhren wieder auf Mitteleuropäische Zeit zurückdrehen. Wegen ihrer Wichtigkeit wurde diese Änderung am Sonntag, dem 1. Juli 1945 in Zwettl durch den Stadttrommler bekannt gemacht.
Ab Juli 1945 brachte die Rote Armee mit der „Österreichischen Zeitung“ eine eigene Tageszeitung heraus, welche der österreichischen Bevölkerung die Segnungen des kommunistischen Systems, die Errungenschaften der Sowjetunion und die Leistungen der Roten Armee näher bringen sollte. Über Befehl des örtlichen Kommandanten vom 25. Oktober 1945 mussten im Verwaltungsbezirk Zwettl täglich mindestens 1.500 Exemplare des Blattes verkauft werden. Ämter und Behörden wurden zum Bezug der Zeitung verpflichtet.

Zeitung der Roten Armee

Noch im Mai 1945 befahl der erste in Zwettl amtierende sowjetische Stadtkommandant, dass die Bewohner sämtliche Radiogeräte abzuliefern hätten. Die Gemeindeverwaltung wurde beauftragt, für das Einsammeln der Apparate zu sorgen und diese in Verwahrung zu nehmen. Bis 18. Mai übernahmen die Gemeindebeamten - gegen Empfangsbestätigung – 1074 Geräte. 31 davon wurden von sowjetischen Offizieren oder Dienststellen beschlagnahmt. Erst Wochen später konnten die meisten Bürger ihre Radioapparate wieder in Empfang nehmen.
Immer wieder forderte die Besatzungsmacht Arbeitskräfte an. So mussten sich zum Beispiel über Weisung der Bezirkshauptmannschaft vom 13. Juni 1945 alle Arbeitskräfte im Alter zwischen 16 und 50 Jahren melden. Bereits am 23. und 24. Mai hatten sich alle ehemaligen Angehörigen der Deutschen Wehrmacht über Befehl der sowjetischen Besatzungstruppen beim Gemeindeamt einzufinden. Diese Aufforderung ließ man durch Austrommeln in der Stadt bekannt machen, bei Nichtbeachtung drohte strenge Bestrafung. Viele ehemalige Soldaten (nach einer im Stadtarchiv aufbewahrten Liste waren es 163) folgten diesem Aufruf. Sie wurden – obwohl meist längst aus der Wehrmacht entlassen – von den sowjetischen Machthabern inhaftiert, als Kriegsgefangene in Lager auf dem Truppenübungsplatz und manchmal noch weiter nach Osten gebracht. Mehrere dieser Unglücklichen starben in der Gefangenschaft, wie zum Beispiel Rudolf Härtling, der Vater des berühmten deutschen Schriftstellers Peter Härtling. Die Wirren der letzten Kriegswochen hatten die Familie Härtling im Mai 1945 nach Zwettl geführt. Der damals etwa 12 Jahre alte Peter Härtling erlebte in Zwettl den Einmarsch der Roten Armee und die ersten schrecklichen Monate der Besatzungszeit. In seinen autobiographischen Romanen „Zwettl - Nachprüfung einer Erinnerung" (1973), „Nachgetragene Liebe" (1980) und „Leben lernen" (2003) verarbeitete er später auch diese Eindrücke. Peter Härtlings Bücher - darunter auch seine autobiographischen Werke - sind heute in fast alle Weltsprachen übersetzt.

Eisenbahnwaggon mit Rotarmisten (Stadtarchiv Zwettl)

Eisenbahnwaggon mit Rotarmisten
(Stadtarchiv Zwettl)

Große Sorge bereitete in Zwettl das Flüchtlingslager, das bald nach Kriegsende entlang der Gerungser Straße entstanden war und von Moidrams bis zum Sportplatz und zur Hammerschmiede im Zwettltal reichte. Bis zu 30.000 Zivilrussen, meist ehemalige Ostarbeiter, die von den Nazis verschleppt worden waren, lagerten hier im Freien, in Zelten oder Hütten, die sie aus Baumrinde bzw. gestohlenem Baumaterial, Balken und Brettern gezimmert hatten. Ihre Versorgung war ein gewaltiges Problem. Der Bevölkerung wurde daher Ende Mai befohlen, Großkochgeschirr und Waschkessel abzuliefern, und die Besatzungsmacht beschlagnahmte bei der Firma Hermann Kastner 150 Blechkübel, die ebenfalls im Lager als Kochgeschirr Verwendung fanden. Diese Menschenansammlung stellte aber auch ein großes gesundheitliches Risiko dar. Bürgermeister Mag. Josef Schüller schlug daher der Stadtkommandantur Anfang Juni vor, die Flüchtlinge bis zu ihrem Weitermarsch in den entsiedelten, damals aber noch intakten Dörfern auf dem Truppenübungsplatz unterzubringen. Leider wurde dieser Vorschlag nicht verwirklicht. Am 21. Juli 1945 übergab Mag. Josef Schüller (ÖVP) das Bürgermeisteramt an den bisherigen Vizebürgermeister Johann Winkler (SPÖ).
Im August 1945 traten in Zwettl die ersten Typhusfälle auf. Im September gab es auch einige Fälle von Fleckfieber. Eine Krankheit, die besonders in Kriegs- und Notzeiten epidemisch auftritt und von der Kleiderlaus (Pediculus humanus corporis) übertragen wird. Im Oktober mehrten sich dann in Zwettl die Typhuserkrankungen, eine Epidemie brach aus. Die Bezirkshauptmannschaft verhängte am 18. Oktober über die Stadt die Quarantäne. Ein- und Ausreisebewilligungen konnte nur der Bürgermeister erteilen. Dr. Artur Lanc, der Amtsarzt des Bezirkes Gmünd, wurde zur Bekämpfung der Seuche nach Zwettl beordert. Im Institut der Schulschwestern richtete man vorübergehend ein Epidemiespital ein. Insgesamt erkrankten in Zwettl zwischen 120 und 130 Personen an Abdominal-Typhus, 39 Menschen starben an dieser Seuche, darunter auch zwei Kinder des ehemaligen Bürgermeisters Mag. Josef Schüller.
Große Angst bereitete es der Bevölkerung, dass sowjetische Wachposten – besonders während der Nacht – häufig von ihren Waffen Gebrauch machten. Um unliebsame Zwischenfälle zu vermeiden, empfahl die Bezirkshauptmannschaft Zwettl am 11. September 1945, während der Nachtstunden überflüssige Gänge zu vermeiden. Auch Bürgermeister Winkler forderte im September die Bevölkerung auf, die Häuser während der Nacht möglichst nicht zu verlassen.
Ein schier unlösbares Problem für Gemeinde- und Bezirksverwaltung und eine ständige Quelle für Konflikte und Übergriffe war die Versorgung der Besatzungsmacht mit Nahrungs- und Verkehrsmitteln, Futter, Vieh, Quartier und Arbeitskräften. Während knapp nach dem Einmarsch der Roten Armee einzelne Kommandanten und Truppenteile noch wahllos Güter beschlagnahmt hatten, versuchte später die lokale Kommandantur, die Versorgung der Truppen doch in geregelte Bahnen zu lenken. Ab 1946 mussten Lebensmittel und andere Güter nur mehr über Aufforderung des örtlichen Kommandanten an die Besatzungsmacht ausgefolgt werden, und dieser hatte eine schriftliche Bestätigung darüber auszustellen. Privatpersonen konnten bei der Bezirkshauptmannschaft um Ersatz der Kosten ansuchen, die ihnen durch die Besatzungsmacht entstanden waren. Die Gemeinde erhielt die Besatzungskosten zumindest teilweise aus Landesmitteln ersetzt.

Aufträge bzw. Aufforderungen von Dienststellen der Roten Armee

Aufträge bzw. Aufforderungen von Dienststellen der Roten Armee zur Übergabe von 40-50 kg Papier (oben) und 5 kg Wurst bzw. Wurst für 8 Soldaten, gegen Barzahlung (Mitte und unten). Die beiden unteren Dokumente tragen den (dreieckigen) Stempel des stellvertretenden Kriegskommandanten der Stadt Zwettl.
Interpretation: Prof. Mag. Wolfgang Steinhauser, Weitra
Quelle: Stadtarchiv Zwettl, Kart. 234

Preise und Löhne:
Am 25. März 1946 legte das Bundesministerium für Volksernährung die Brotpreise fest: 1 kg Roggenbrot durfte 34 Groschen kosten, 1 kg dunkles Weizenbrot 46 Groschen.
1 Krügel Bier der Preisklasse I kostete 45 Groschen (4. Februar 1946),
1 Krügel Bier der Preisklasse II kostete 60 Groschen.
Die ersten beiden Lokalzeitungen („Zwettler Nachrichten“ und „Waldviertler Bote“), die nach der Befreiung im Juni bzw. Juli 1945 in Zwettl erschienen, kosteten jeweils 10 Groschen pro Ausgabe.
Ein Gemeindefunktionär erhielt im Juli 1945 folgende Diäten: Tagesgebühr: 12,--, Nächtigungsgebühr 10,-- Schilling.
1946 verdiente einer der vier Zwettler Gemeindepolizisten monatlich 150,--, der Gemeindesekretär 250,-- Schilling.

Literatur:
Karl Gündler, Mai 1945. Zwettler Soldatenschicksale. In: Heimatkundliche Nachrichten. Beiblatt zum Amtsblatt der Bezirkshauptmannschaft Zwettl. 14. Jg., 5/1993 (1993) S 15-18.

Josef Leutgeb, Vor 35 Jahren Ende des 2. Weltkrieges. In: Zwettler Kurier Nr. 19 (1980) S 1-6.

Josef Leutgeb, Vor und nach der Stunde 0 [= das Jahr 1945]. In: Festschrift, Zwettler Sommerfest vom 4. bis 13. Juli 1980 (1980) S 95-103.

Josef Leutgeb, Zwettl von 1918 bis 1980. In: Hans Hakala/Walter Pongratz, Zwettl-NÖ, Band 1. Die Kuenringerstadt (1980) S 99-181.